Eine einheitliche Definition des Begriffs Tagelied gibt es nicht. Dennoch sehr präzise fasst Bumke (2004:34) zusammen:
Tagelieder besingen den Trennungsschmerz der Liebenden beim Anbruch des Tages. Dieses Thema ist zu allen Zeiten lyrisch behandelt worden: im alten Ägypten, in China, im klassischen Griechenland, im euröpäischen Mittelalter und in vielen modernen Literaturen. Man vermutet, dass es in Deutschland eine volkstümliche Tradition des Tageliedes gab. Das älteste deutsche Tagelied [...] das unter dem Namen Dietmars von Eist überliefert ist, scheint noch Spuren dieser Tradition zu bezeugen.
Im 12. Jahrhundert entwickelte sich in Südfrankreich die sogenannte ‘Alba‚, das höfische
Tagelied. Wolfram machte diese neue Form in Deutschland populär (vgl. ebd.). Für einen
ausführlichen Überblick über die Entwicklung siehe Backes (2003).
Knoop 1976 liefert eine kritische Auseinandersetzung mit Definitionen. Er sieht als wichtistes
Motiv des mittelhochdeutschen den „Abschied zweier Liebender am Morgen“. Inhaltlich
konsitutive Elemente seien die Person des Wächters, der Frau und des Ritters, sowie die sieben
Konstituenten:
Wobei dem Ritter eine passive Rolle zukäme (siehe Knoop 1976:164). Verwandt mit dem Tagelied ist die Frauenklage, die das Klagen der verlassenen Frau thematisiert (vgl. Wapnewski 1971:33).
Die Angaben, die über Wolfram von Eschenbach bekannt sind, enstammen seinen eigenen Werken, sowie einigen Nennungen bei anderen Autoren. Er behauptete von sich selbst, weder des Lesens noch des Schreibens mächtig gewesen zu sein. Überliefert sind drei epische Werke (Parzival, Willehalm und Titurel) und neun Lieder, von welchen fünf Tagelieder sind (vgl. Bumke, J. 1999). Sein Name gab Anlass zu Spekulationen zu seiner Herkunft. Bumke (2004:1) ist sich allerdings sicher, dass die
Frage nach welchen Eschenbach der Dichter sich genannt hat [...] als entschieden [gilt]. Es ist das fränkische Ober-Eschenbach, südöstlich von Ansbach in Oberfranken, das sich 1917 in Wolframs-Eschenbach umbenannt hat.
Gemeinsam ist allen fünf Tageliedern Wolframs, dass in ihnen eine Wächterfigur auftritt, weswegen man auch von Wächtertageliedern spricht. Dem Wächter kommt die Funktion des Beschützers der Liebenden zu. Ort der Handlung ist eine Burg. Vier der Lieder weisen folgende inhaltliche Gemeinsamkeiten auf (vgl. Bumke, J. 1999):
Die Rollenverteilung ist dabei von Tagelied zu Tagelied verschieden: „einmal spricht nur der Wächter, einmal nur die Frau, einmal sprechen der Wächter und die Frau zueinander, einmal sprechen beide zu sich selbst“ (Bumke 2004:35). Die Tagelieder werden wie folgt besprochen:
Ungewöhnlich erscheint die Tatsache, dass dem anbrechenden Tag in den Tageliedern eine negative Rolle zugesprochen wird. Licht ins Dunkle bringt Wapnewskis (1971:35) Ausführungen:
Diesen ‚Tageshaß‘ kennen die deutschen Lieder vor Wolfram nicht, und er ist in der Tat eine erstaunliche Erscheinung. Dem Mittelalter als einem bestimmten Zustand der Zivilisationsgeschichte bedeutet der Tag per se etwas Gutes: er befreit von Dunkelheit und Kälte und Angst. [...] [Was Wolfram ausdrücken will, ist] das Wider-Natürliche der Trennung, der Wahnsinn der in allem Abschied der Liebenden liegt. Durch ihn werden sie herausgebrochen aus dem Einklang mit der Welt, dem Einklang mit der Natur[...] durch ihn erhalten sie einen Sonderstatus den sie nicht gewollt, durch ihn werden sie getrennt von der Norm alles Lebens um sie, durch ihn werden sie gefährdet, weil hier eine Elementarkraft des Lebendigen sich stellt gegen die andere: Die des Tages gegen die der Liebe. Ausgesetzt sind die Liebenden, ausgeschlossen aus der Harmonie des Natürlichen wie den Normen der Gesellschaft.
Rohrbach (1986:45f.) gibt folgende Übersetzung des ersten Liedes wider:
Den ersten Strahl des Morgens nahm eine Dame wahr, da sie heimlich in
ihres Geliebten Arme lag. Darüber verlor sie viel Freude und ihre strahlenden
Augen wurden davon feucht. Sie sprach: ‚O weh Tag! Wild und zahm, das
freut sich auf dich und sieht dich gerne – ausser mir. Was soll mit mir
geschehen? Jetzt kann mein Geliebter nicht länger mehr hierbleiben, dein
Schein jagt ihn von mir.‘
Der Tag drang mächtig durch die Fenster. Sie hatten manchen Riegel
vorgelegt. Das half nichts, was sie auch mit Sorge bemerkten. Die Geliebte
klammerte sich fest an den Geliebten. Ihrer beider Augen, die benetzten ihre
Wangen. Da sprach sie zu ihm: ‚Zwei Seelen sind wir in einem Leib, unser
Festhalten aneinander (triuwe) geht zusammen gleiche Wege, doch bin ich
um die grosse Liebe gebracht, kommst Du nicht zu mir und ich zu Dir.‘
So nahm der traurige Mann bald mit ihrer Einwilligung Abschied: Ihre hellen schlanken Leiber kamen einander näher. So wurde es Tag (bzw. Obwohl der Tag erschien.). Weinende Augen – Kuss einer lieben Dame. Sie konnten da ihre Münder, Brüste, Arme und ihre nackten Glieder so ineinander verschlingen, dass es dem Abbildner, der gesalten könnte, wie sie da nach Art von Geliebten beieinander lagen, zur Ehre gereichen würde. Ihrer beider Liebe hatte viel, viel Sorge in sich, sie hegten eine Liebe ohne den geringsten Makel.
Das Lied, ist wie auch Sîne klawen ... an die Parzival-Handschrift G angehängt und entstand vermutlich im 13. Jahrhundert (vgl. Rohrbach 1986:46). Hauptperson des Stückes ist die Frau. Nur sie kommt zu Wort, sie beklagt die Trennung. Der Mann erscheint passiv, der Wächter wird lediglich erwähnt. Zu Anfang wird die Nähe der Liebenden, der Wächter und die Gefährdung durch den sich im Anbruch befindlichen Tag geschildert. Zunächst werden die Liebenden noch einzeln im Singular benannt, doch dann stellt sich ein Plural ein. Wie im dritten Tagelied wird auch hier der Tag tierhaftig dargestellt, wie er durch die Fenster dringt (Wapnewski 1971:34 spricht von einem „Prankengriff“). Zum Verschlingen der Körper führt Wapnweski (1971:35) aus:
Mit bestürzender Direktheit, deutlich wie kein Dichtere sonst dieser Zeit, liefert Wolframs Werk Szenen aus dem Bereich der tabuisierten körperlichen Liebe – wie hier.
Rohrbach (1986:48) weist auf die Anspielung auf Matthäus, 19 hin, wo Jesus ausführt, dass Mann und Frau ein Fleisch seien und ergänzt:
Liebe ist seelisch-körperliche Totalität zweier Menschen. [...] Daraus folgt, dass eine (räumliche) Trennung diese Liebe zerstört. Im gleichen Masse, wie allein Körperlichkeit nicht in der Lage ist, Liebe zu konstituieren, im gleichen Masse vermag dies auch das bloss Seelische nicht.
Backes (2003:99) übersetzt:
‚Es ist jetzt Tag. Das muß ich wahrheitsgemäß ankündigen. Ich kann nicht länger bleiben.‘ ‚Die dunkle Nacht hat uns nun zu meinem Unglück das erste Morgenlich gebracht. Wenn mein Geliebter sich nun von mir trennen muß, so überfällt mich der Schmerz darüber zu plötzlich. Ich weiß genau, ihm, den ich in meinen Augen gern verbergen würde, wenn ich ihn auf diese Weise behalten könnte, geht es ebenso. Mein Schmerz wird immer größer. Ach, wie wird er von hier fortkommen? Der Friede des Herrn möge ihn noch einmal in meine Arme führen.‘
Die edle Frau umarmte ihren Geliebten leidenschaftlich. Der schlief noch fest. Als er das Morgenfrauen bemerkte, wurde er sehr traurig. Er drückte sie an die Brust und sagte: ‚Ich habe fürwahr noch nie eine so schmerzliche plötzliche Trennung erlebt. Die Nacht ist viel zu schnell vergangen. Wer hat sie so kurz bemessen? Der Tag läßt sich nicht aufhalten. Wenn die Liebe an der höchsten Glückseligkeit teilhat, dann helfe sie mir, daß ich dich noch einmal glücklich wiedersehen kann.‘
Auch im zweiten Tagelied geht es um das Leid, welches die Umstände der Liebe bereitet. Der Mann hat im Gegensatz zum ersten Lied eine Sprecherrolle. Durch die bestätigende Wiederholung der Gedanken der Frau, kommt die Gegenseitigkeit der Liebe und des Leides zum Ausdruck (vgl. Rohrbach 1986:58).
Rohrbach (1986:62) übersetzt:
‚Seine Klauen sind durch die Wolken geschlagen. Er steigt auf mit grosser Kraft. Ich sehe ihn tagen, nach Art des Tages, wie er tagen wird, den Tag, der ihm das Beieinandersein beenden will, dem edlen Mann, den ich nachts einliess. Ich bringe ihn weg, sofern ich kann. Seine so mannigfaltige Tugend hiess mich das tun.‘
‚Wächter, Du singst von etwas, das mich um alle Freude bringt, und meine Klage vermehrt. Kunde bringst Du mir, die mir nicht gefällt, immer morgends bei Tagesanbruch. Die sollst Du mir völlig verschweigen. Das verlange ich von Deinem Pflichtbewusstsein: dafür belohne ich Dich, soweit ich mich getrauen kann, dann bleibt mein Geliebter hier.‘
‚Er muss wirklich weg, bald und ohne zu säumen: Nun gib ihm Deine Einwilligung, liebliche Frau. Lass ihn Dich später so verborgen lieben, dass er Dein Ansehen und Leben behalte. Er ergab sich so meiner Verantwortung, dass ich ihn auch wieder fortbrächte. Jetzt ist es Tag, Nacht war es, als Dein Kuss ihn mir mit Umarmung (Drücken an die Brust) anvertraute.‘
‚Sing, Wächter, was Du willst, aber lass den hier, der Liebe brachte und Liebe empfing. Von Deinem Lärm sind er und ich jäh erschrocken. So ging über ihm noch nie der Morgenstern auf, über ihm, der hierher um der Liebe gekommen ist, noch leuchtete des Tages Licht. Du hast ihn mir oft aus den blossen Armen gerissen, doch nicht aus dem Herzen.‘
‚Von den Strahlen, die der Tag durch die Fenster warf, und weil der Wächter Warnung sang, musste sie erschrecken um des Willen, der bei ihr Lag. Ihre Brüste schmiegte sie an seine Brust. Der Ritter vergass nicht sein Teil, wovon ihn der Wächtergesang abhalten wollte: Der Abschied näher und immer näher – mit Kuss und anderem belohnte sie die Minne.‘
Im dritten Lied kommt dem Wächter eine zentralere Rolle zu. Er steht im Zwiegespräch mit der Dame. Der Wächter steht gleichsam für die Vernunft, die Dame für die Liebe. Sie will nicht anerkennen, dass sie sich trennen muss von ihrem Geliebten, der nicht zu Wort kommt. Doch ganz so einseitig steht er nicht auf Seiten der Vernunft, schließlich will er den Mann und somit die Liebe beschützen. In diesem Lied kommt der der Tagelied-„Situation immanente Widerspruch von Bleiben-Wollen und Sich-Trennen-Müssen“zum Ausdruck (Rohrbach 1986:64). Die Frau arguemntiert im Streitgespräch wider alle Vernunft.
Rohrbach (1986:66) übersetzt: ‚Von der Zinne werde ich abtreten und den Gesang zum Tagesanbruch verklingen lassen. Die sich da heimlich lieben, auch wenn sie ihrer Liebe viel zugute halten, die mögen an dessen Lehre denken, dem Leben und Ehre in die Hand gegeben seien. Wer mich darum bäte, fürwahr, ich leistete ihm guten Rat und Hilfe. Ritter, wach auf und nimm dich in acht.‘
‚Ich will nicht die Standesehre der gesamten Wächterschaft gegenüber dem Edlen Mann in Misskredit bringen. Du, Herrin, sollst nicht eingedenk der Zukunft [...] an den Schmerz der Trennung denken. Es wäre ein Unding, dass die Liebenden auch noch mit der Aufgabe zu melden (Gefahr verraten zu werden) belastet wären. Ein Signal bringt es mit sich, dass mein Mund singt: Durch Wolken dringt ein Morgenschimmer. Hüte Dich, wach auf, lieblicher Gast‘
Er musste weg, er, der sie ungern klagen hörte. Da sprach er: ‚Keinem Mann zerstörte jemals die Trauer so völlig, was er in Freunden fand.‘ Obwohl es zu tagen begann, jagte der Unverzagte an ihr, was ihn die Sorge vergessen liess. Vertrautes Näherrücken, heimliches Anschmiegen, ihrer Brüste Drücken und noch einiges mehr, das schenkte ihnen der Abschied. Ihm gebührte hohes Lob. (er hatte hohen Preis.)
Wolframs viertes Lied stellt den Wächter in den Mittelpunkt. Die Frau bleibt dagegen stumm. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als sei der Wächter der personifizierte moralische Zeigefinger, so ist er doch „Freund und Helfer der Liebenden, und kein Sittenpolizist“ (Rohrbach 1986:69). Es geht auch in diesem Lied wieder um eine Konfliktsituation zwischen gesellschaftlichen Zwängen und individuellem Verlangen. Im Vergleich zu den anderen Liedern fällt auf, dass Wolfram jeweils andere Perspekiven auf das gleiche Thema wählt. In diesem Fall aus Sicht des Wächters, der eigentlich Diener sein sollte, sich also in einer untergeordneten Position befinden sollte. Das Lied demonstriert jedoch das „Ausgeliefertsein des Herrn an den Knecht [...]“ (Wapnewski 1972:138).
Übersetzung von Rohrbach (1986:75f):
Die Klage der heimlichen Liebe, das Saure nach dem Süssen, das sangst Du immer gegen Morgen. Wer Liebe und Frauengruss so empfing, dass er sich wieder trennen musste – was Du ihnen da als Rat gabst, als der Morgenstern aufging, Wächter sei still, sing nicht länger davon.
Wer eine Liebe hegt oder hegte mit Wissen der Öffentlichkeit, der braucht nicht wegen des Morgens von dannen eilen, Er kann den Tag abwarten. Man braucht ihn nicht unter Gefahr seines Lebens fortgeleiten: Eine willige, liebe Ehefrau kann solche Liebe geben.
Wolframs fünftes Tagelied wurde auch als Antitagelied bezeichnet. Rohrbach (1986:77) lehnt diese Bezeichnung ab und ordnet es den Tageliedern zu, da es mit ihnen einen „wesentlichen Punkt “ gemeinsam habe, es verhandele nämlich die „wie alle anderen Tler Wolframs, die mit der Tl-Minne verbundene Problematik.“ Wapnewski (1972) kommt zu dem Schluss, es handele sich um Ironie. In dem Lied wird nicht klar, wer zu Wort kommt.