Die Großschreibung der Nomen in der Grundschule
Das Internet ist voll von Druckvorlagen und Materialen für Lehrerinnen und Lehrer. Beworben werden diese unter anderem auch von auf die Schule spezialisierten Influencerinnen und Influencern in sozialen Medien. Ich habe mich ein bisschen nach solchen Materialen auf Instagram umgesehen und war ehrlich gesagt ziemlich schockiert. Ich verstehe ja, dass man gerade in der Grundschule eine didaktische Reduktion vornehmen muss, aber viele der auf den Arbeits- und Merkblättern dargestellten Regeln, die ich gesehen habe, waren entweder nicht hilfreich oder sogar einfach grob falsch. Und das betrifft nicht nur einen kleinen Teil der Seiten, die ich mir angesehen habe, sondern wirklich so gut wie alle.
Ein einfaches Beispiel ist die Großschreibung der Substantive. Hier werden wahlweise drei oder vier Regeln eingeführt, nämlich die „Wahrnehmungsprobe“, die „Artikelprobe“, die „Mehrzahlprobe“ und manchmal noch die „Adjektivprobe“ (die allerdings tatsächlich sehr selten war). Sehen wir uns das im Einzelnen kurz an.
Die Wahrnehmungsprobe: Kann man es sehen oder anfassen? Dann ist es ein Nomen.
Die Artikelprobe: Kannst du einen Artikel vor das Wort stellen? Dann ist es ein Nomen.
Die Mehrzahlprobe: Kannst du das Wort in der Einzahl und in der Mehrzahl verwenden? Dann ist es ein Nomen.
Die Adjektivprobe: Kannst du das Wort mit einem Adjektiv näher beschreiben? Dann ist es ein Nomen.
Eine der schön illustrierten Merkkarten, die ich gesehen habe, hatte noch zwei schöne Beispielsätze, die in etwa so aussahen:
(1) Die große Katze trinkt Milch.
(2) Die großen Katzen trinken auch Milch.
Diese Sätze hat offenbar ein erwachsener Mensch geschrieben, der intuitiv wusste, dass es sich bei Katze um ein Nomen handelt, das großgeschrieben wird. Sehen wir uns den Satz in (1) aus Sicht eines Kindes an, das diesen Satz schreiben will und sich fragt, welche Wörter man großschreibt: Die schreibt man groß, es steht schließlich am Satzanfang. Was ist mit große? Man kann sehen, ob etwas groß ist oder klein, die Wahrnehmungsprobe sagt also, dass es sich um ein Nomen handelt. Die Artikelprobe ist auch positiv, denn es steht ja tatsächlich ein Artikel vor große. Der Satz in (2) zeigt, dass sich das Wort auch in den Plural setzen lässt und sogar die Adjektivprobe, die eigentlich die beste dieser Proben ist, sagt uns, dass man vor große ohne weiteres ein Adjektiv setzen kann (die schöne große Katze). Alle diese Proben versagen. Und tatsächlich ist die Substantivgroßschreibung einer der Bereiche, in dem die meisten Rechtschreibfehler gemacht werden – und das gilt nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene.
Ich verstehe die Motivation der Wahrnehmungsprobe. Sie macht Nomen so schön anschaulich! Aber die Bedeutung hat in einer Wortartendefinition überhaupt nichts verloren. Doch genau dort setzen alle Materialien, die ich gesehen haben, an. Präpositionen wurden durch die Bank als Wörter defininiert, die anzeigen, wo etwas ist (oder in welchem Verhältnis zwei Gegenstände zueinander stehen). Das ist absoluter Blödsinn! Die Sätze in (3) enthalten alle eine Präpositionen, die alle nichts mit einem räumlichen Verhältnis zu tun haben.
(3) a. Ich bin sauer auf den Nachbarn.
b. Er ärgert sich über die Katze.
c. Ich entschuldige mich für mein Verhalten.
d. Ich kämpfe für eine bessere Schule.
Präpositionen sind eine nicht-flektierbare Wortart, deren Vertreter den Kasus der folgenden Nominalgruppe bestimmen (regieren). Mehr nicht. Zu sagen, Präpositionen würden ein räumliches Verhältnis angeben, ist keine didaktische Reduktion, sondern einfach nur falsch und hilft den Kindern nicht weiter.
Kommen wir aber zurück zu den Nomen. Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Was ist ein Nomen? Mit der Bedeutung hat das ganz bestimmt nichts zu tun, wie sich leicht zeigen lässt. Handelt es sich bei trinken um ein Nomen? Die Antwort auf diese Frage ist: „Keine Ahnung!“ Ob es sich bei trinken um ein Nomen oder ein Verb handelt, hängt vom Kontext ab (Verb: Jeder Mensch muss trinken. Nomen: Das Trinken von Wein ist eine tolle Sache). Es kommt also auf die Stellung des Worts im Satz bzw. seine Funktion im Satz an. Da könnte die Artikelprobe ins Spiel kommen, aber wie wir gesehen haben, können zwischen Artikel und Nomen auch noch Adjektive stehen. Das hilft also auch nur bedingt weiter. Neben der Distribution im Satz spielen auch morphosyntaktische Eigenschaften bei der Bestimmung von Wortarten eine Rolle. Die Idee mit der Mehrzahlprobe ist daher eigentlich gar nicht schlecht. Das Problem ist allerdings, dass attributive Adjektive im Deutschen mit den Nomen, die sie modifizieren, kongruieren. Sie stehen also auch im Singular oder im Plural.
In der Literatur werden Nomen häufig als die Köpfe von erweiterbaren Nominalphrasen charakterisiert. Erweiterbar sind sie durch Adjektive. Kurzum bedeutet das, dass zwischen Artikel und Nomen beliebig viele Adjektive treten können. In manchen didaktischen Ansätzen werden Nomen daher über Treppengedichte eingeführt (Röber-Siekmeyer 1999):
Mit solchen beliebig erweiterbaren Gedichten versteht man relativ schnell, was ein Nomen (und was ein attributives Adjektiv) ist. Dabei handelt es sich um eine sinnvolle didaktische Reduktion, die die richtige Regel einführt. Natürlich gibt es dann noch einige Ausnahmen von dieser Regel (im Allgemeinen schreibt man beispielsweise groß, man kann aber kein Adjektiv zwischen im und Allgemeinen setzen), aber diese werden dann später als Sonderfälle eingeführt, die man sich einfach merken muss.
Literatur
Röber-Siekmeyer, Christa (1999). Ein anderer Weg zur Groß- und Kleinschreibung. Leipzig, Stuttgart & Düsseldorf: Klett.